Der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow schreibt im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 10.11.2007 über seinen Alltag als Bundestagsabgeordneter. Dieser Artikel ist auch auf der Homepage der Süddeutschen Zeitung einsehbar.
Warum ich diesem Artikel einen extra Blogeintrag widme wird man im folgenden hoffentlich sehen. Auch wenn man viele der angesprochenen Fakten schon erahnte, in der Form hat sich allerdings meines Wissens noch kein Bundestagsabgeordneter dazu geäußert.
Ich werde einfach mal wild aus dem Artikel zitieren und die Zitate unkommentiert stehen lassen. Natürlich sind die Zitate unter Umständen aus dem Zusammenhang gerissen. Deshalb sollte jeder Leser den dieses Thema interessiert am besten nochmal den gesamten, sehr lesenswerten, Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung lesen.
Von uns Abgeordneten wird erwartet, dass wir den Kurs der Regierung unterstützen, auch wenn wir persönlich anderer Meinung sind. Was soll ich also tun?
Es ist so, dass über eine Gesetzesvorlage zum ersten Mal im Ausschuss abgestimmt wird, und in der SPD-Fraktion wurde entschieden, dass Gesetzesvorlagen in den Ausschüssen grundsätzlich nicht scheitern dürfen. In so einem Fall müssen wir uns fügen, obwohl wir SPD-Leute im Umweltausschuss die Reform gern abgelehnt hätten. Die Gewissensentscheidung, die jedem Abgeordneten die freie Wahl lässt, gilt, wenn überhaupt, nur für das Plenum, nicht für den Ausschuss. Was sehr hart ist, sitzen in den Ausschüssen doch die Fachpolitiker, die am besten Bescheid wissen. Die müssen dann auf Order der Fraktion einer Vorlage zustimmen, die sie eigentlich ablehnen.
Unter Rotgrün war der Druck bei Abstimmungen noch größer als heute, weil wir eine sehr knappe Mehrheit hatten. Jeder musste mit der Fraktion stimmen, um die Regierung nicht zu gefährden. Als es 2003 um die Gesundheitsreform ging, wurde ich sogar krank ins Parlament bestellt. Ich lag in einem Nebenraum auf einer Liege, habe dort meine Stimme abgegeben und bin danach wieder zurück nach Dortmund gefahren.
Eigentlich ist es unsere Aufgabe als Abgeordnete, nicht alles mitzumachen. Aber es ist heute so, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man nicht zustimmt. Wahrheiten auszusprechen ist nicht beliebt.
Besonders vorsichtig verhalten sich Abgeordnete, die über die Landeslisten ins Parlament gekommen sind; das betrifft 77 der 222 Abgeordneten, die restlichen 145 wurden direkt gewählt. Wer keinen eigenen Wahlkreis hat, überlegt sich zweimal, ob er gegen die Mehrheit stimmen soll, aus der nicht unberechtigten Sorge, vor der nächsten Wahl vielleicht den guten Listenplatz zu verlieren.
Wenn ich mir anschaue, wie dick der Stapel der Vorlagen ist, der jede Woche auf dem Tisch vor dem Plenarsaal liegt – nur zum Lesen allein bräuchte ich schon eine Woche. Das führt dazu, dass ich bei vielen Abstimmungen weder den Gesetzestext kenne noch wirklich weiß, worum es geht. Wenn es sich um Entscheidungen handelt, die nichts mit meinem Fachgebiet zu tun haben, muss ich mich auf die jeweiligen Experten verlassen. Gibt es im Vorfeld keine großen Streitigkeiten oder Einwände aus meinem Wahlkreis, dann kümmere ich mich nicht weiter um den genauen Inhalt der Entscheidung, sondern stimme ab, wie die Fraktion will. Als Abgeordneter bin ich oft ein gefährlich Halbwissender.
Ich habe beschlossen, mich in Zukunft bei Abstimmungen nicht mehr ausschließlich der Mehrheit zu fügen. Die Meinung meiner Basis, meines Wahlkreises und meine Überzeugung sind mindestens genauso wichtig. Denn die Große Koalition ist auf dem falschen Weg.
Bei einer Fraktionssitzung habe ich auch mal gesagt, dass ich diese Entscheidungen in der Summe nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren könne. Es wurde stiller im Saal, was sonst eigentlich nur passiert, wenn ein Minister oder der Fraktionschef redet. Aber keiner hat etwas erwidert.
Ich bin sehr froh das Marco Bülow diesen Artikel geschrieben und sich entschieden hat in Zukunft mehr seinem Gewissen als der Fraktion zuzuhören. Denn genau das ist eigentlich die Aufgabe eines Politikers.